Der erste Stellvertreter by Kertzer David I
Autor:Kertzer, David I. [Kertzer, David I.]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783806234282
Herausgeber: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Bild 35: Mussolini mit den Kindern einer faschistischen Jugendgruppe, 1938.
Drei Tage später empfing Pius XI. die Mitarbeiter des katholischen Radiosenders in Belgien zu einer Audienz. Während die Botschaft des US-Botschafters ihm noch ganz präsent war, schob er den Rat seiner Umgebung beiseite und ließ sich von seinem Herzen leiten. Seine Stimme wurde emotional und seine Augen feucht, als er auf die Rassenkampagne zu sprechen kam. „Jedesmal, wenn ich die Worte ‚das Opfer unseres Vaters Abraham‘ lese“, sagte Pius mit Bezug auf das Hochgebet während der Heiligen Messe, „bin ich unwillkürlich tief bewegt.“ Seine Stimme zitterte. „Es ist unmöglich, dass Christen dem Antisemitismus folgen. Wir erkennen an, dass jeder das Recht zur Selbstverteidigung hat und notwendige Maßnahmen zum Schutz seiner legitimen Interessen treffen kann. Doch Antisemitismus ist unzulässig. Im geistigen Sinne sind wir alle Semiten.“11
Genau das hatten Ledóchowski, Tacchi Venturi, Borgongini und Pacelli befürchtet, aber sie fanden einen Weg, um den Schaden zu begrenzen. Als der Osservatore Romano über die Äußerungen des Papstes berichtete, wurden seine betrübten Worte über die Juden nicht erwähnt.12 Dass einige Katholiken das Schweigen der Vatikanzeitung bemerkten, geht aus einem Polizeibericht vom Tag nach der Ansprache des Papstes hervor. „Viele Katholiken, die den jüngsten Worten des Papstes zur Verteidigung der Juden zustimmten, wissen sich nicht zu erklären, warum die Vatikanzeitung, die als einzige nicht der staatlichen Zensur unterliegt, nach den Beschlüssen der Regierung nicht auf das Thema zurückgekommen ist. Sie finden dieses Schweigen seltsam.“13
Wie genau Pacelli und der Sekretär der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten Domenico Tardini es bewirkten, dass der Osservatore Romano die explosiven Bemerkungen des Papstes unterschlug, bleibt ein Rätsel. Die meisten Seiten aus Pacellis Aufzeichnungen über die Treffen mit dem Papst in diesen Monaten fehlen in den Akten, die für Wissenschaftler im Archiv des Staatssekretariats zugänglich sind.
Mussolini hielt die Italiener für ein schwaches Volk. Er musste sie härter machen. Bei einer Sitzung des Großrats Anfang Oktober, bei der zusätzliche Rassengesetze beschlossen wurden, erklärte er: „Es ist meine Aufgabe, die Italiener auf Trab zu bringen. Ich weiß, dass es am Rand jene gibt, die es sich gut gehen lassen. Aber die sind bloß der Rand der Gesellschaft. Wir werden sie abschneiden.“14
In den Augen vieler Italiener hatte Mussolini göttergleiche Eigenschaften angenommen, aber mit der Anbetung kam eine gewisse Furcht. Als zwei Mitglieder des Instituts für faschistische Kultur das Gebäude verließen, trafen sie den alten Hausmeister. Einer wies scherzend auf den anderen und sagte zu dem verdatterten Mann: „Sehen Sie diesen Mann? Er ist unsterblich.“
„Was soll das heißen?“, fragte der alte Mann. „Alle Menschen sind sterblich!“
„Aha! Ich verstehe! Sie meinen also, Mussolini ist ein gewöhnlicher Sterblicher?“
„Das habe ich nicht gesagt!“, verteidigte sich der Hausmeister erschrocken.15
Etwa zur selben Zeit empfing Außenminister Ciano Philipp Prinz von Hessen, durch den Hitler oft Botschaften an Mussolini schickte. Im selben Jahr hatte er schon Hitlers Brief überbracht, der Mussolini über den bevorstehenden Anschluss Österreichs informierte. Philipp von Hessen war ein Neffe Wilhelms II. und Urenkel der britischen Königin Viktoria. Seit 1930 gehörte er der NSDAP an und hatte viel dafür getan, den deutschen Adel für die Nazis zu gewinnen.
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